Ein Gebet nach einer Inschrift aus dem 17. Jahrhundert

O Herr, du weißt besser als ich,  dass ich von Tag zu Tag älter und eines Tages alt sein werde. Bewahre mich vor der Einbildung, bei jeder Gelegenheit und zu jedem Thema etwas sagen zu müssen. Erlöse mich von der großen Leidenschaft, die Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen.

Lehre mich, nachdenklich, aber nicht grüblerisch, hilfreich, aber nicht diktatorisch zu sein. Bei meiner ungeheuren Ansammlung von Weisheit erscheint es mir ja schade, sie nicht weiterzugeben - aber Du verstehst, o Herr, dass ich mir ein paar Freunde erhalten möchte.

Ich wage nicht, die Gabe zu erflehen, mir die Krankheits- schilderungen anderer mit Freude anzuhören, aber lehre mich, sie geduldig zu ertragen. Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann. Erhalte mich so liebenswert wie möglich.

Ich möchte kein Heiliger sein – mit ihnen lebt es sich so schwer -, aber ein alter Griesgram ist das Königswerk des Teufels. Lehre mich, am anderen Menschen unerwartete Talente zu entdecken, und verleihe mir, o Herr, die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen.

 

Martin Arzt, Redaktion "Unsere Familie" – nach einer anonymen Inschrift

aus dem 17. Jahrhundert in einer englischen Kirche

Quelle: Unsere Familie, Nr. 13 vom 5. Juli 2022