"Ich habe so viel erlebt"

Ilse Stapel aus Barmbek ist mit 95 Jahren die Älteste in ihrer Gemeinde. Im Interview gibt sie einen kurzen Einblick in ihr langes Leben. mehr

Ilse Stapel aus Barmbek ist mit 95 Jahren die Älteste in ihrer Gemeinde. Im Interview gibt sie einen kurzen Einblick in ihr langes Leben.

Liebe Schwester Stapel - 95 Jahre. Wo beginnt man da bloß zu fragen?

Ich kann es manchmal selbst nicht glauben. Ich betrachte die Lebensstrecke oft als Metermaß – ein Zentimeter für jedes Jahr. Jetzt fehlen nur noch fünf Zentimeter, dann ist die Hundert voll. Die Zeit ist so schnell vergangen …

Fangen wir doch einfach von vorn an: Wie sind Sie aufgewachsen?

Meine Eltern starben, als ich noch sehr klein war. Meine beiden Brüder kamen ins Waisenhaus. Ich lebte bei meiner Großmutter, mit meiner Tante und meinem Onkel. Beim Spielen mit den Nachbarskindern habe ich immer gedacht: So eine schöne Familie möchte ich auch mal haben. Heute habe ich zwei Töchter, fünf Enkel und drei Urenkel. Sie fragen mich oft: Oma, wie war das denn früher so?

Was antworten Sie?

Ich erinnere mich an technische Erfindungen, die mich schwer beeindruckt haben – sie waren mir aber nicht immer ganz geheuer. Als ich so fünf Jahre alt war, sollte ich mit meinen Brüdern fotografiert werden. Wir setzten uns ins Gras, der Fotograf kam, legte ein schwarzes Tuch über seinen komischen Apparat und sagte zu uns: „Guckt mal her, da kommt gleich ein Vogel raus.“ Ich hatte solche Angst, dass der auf mich zufliegt – da bin ich lieber mal in Deckung gegangen und abgehauen. Auf dem Foto sitzen meine beiden Brüder alleine und gucken ganz verdattert. Aber auch elektrisches Licht oder ein Radio, aus dem plötzlich eine Stimme kam – das war völlig neu für uns.

Auf Ihre Kindheit folgte das Dritte Reich und der Krieg.

Wir lebten Anfang der 30er Jahre in Hammerbrook, meine Tante hatte dort ein Geschäft. Direkt gegenüber war ein Eierladen, der einer jüdischen Familie gehörte. Ich spielte mit deren Tochter Edith. Eines Tages war die Tür zu und ich dachte: Wo ist denn Edith abgeblieben? Heute sagen alle: Ihr hättet doch wissen müssen, was damals geschah. Wussten wir aber nicht. Ich war im „Bund Deutscher Mädel“, meine Brüder sind zum Arbeitsdienst einberufen worden und haben sich gefreut, dass sie Arbeit hatten. Dieses Aufwachsen war für uns völlig normal. Das war eine Zeit, die die Menschen mitgerissen hat – bis es dann zum Krieg kam.

Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Ich habe 1942, mitten im Krieg geheiratet. Mein Mann war Ausbilder bei der Marine. Im September 1939 habe ich ihn in Kiel besucht. Auf einmal hieß es: Es ist Krieg in Polen. Da haben wir erst mal geheult. Mein Mann war in Sassnitz auf Rügen stationiert und besorgte mir dort ein Zimmer. Wir wussten ja nicht, wie lange wir noch zusammen sein konnten. Also zog ich im April 1943 mit Sack und Pack aus Hamburg fort. Als die Großangriffe anfingen, packte ich auch in Sassnitz meinen Seesack: Alle Angehörigen der Flottille wurden nach Dänemark gebracht. Dort kamen wir in ein Flüchtlingslager und lebten später in Baracken.

Wie ging es für Sie weiter?

Nach dem Krieg, zurück in Hamburg, sind meine beiden Töchter zur Welt gekommen und das Geld wurde knapp. Mein Mann hat angefangen, auf dem Bau zu arbeiten. Ich wollte ihn unterstützen und suchte auch nach Arbeit. Eigentlich hatte ich Verkäuferin gelernt, aber ich landete in einer Marzipan-Fabrik. Ich musste 30 Mar-zipanbrote pro Stunde einwickeln. Dafür gab es eine Mark.

Gehörte die Neuapostolische Kirche während all dieser Zeit eigentlich zu Ihrem Leben dazu?

Nein, zur NAK bin ich erst durch meinen Mann gekommen. 1950 wurde ich versiegelt – zusammen mit meinen beiden Töchtern. Wir besuchten einige Zeit die Gemeinde Billstedt. Aber damals ging es noch strenger zu als heute: Einen Sonntag bin ich zu Hause geblieben, weil meine Kinder die Masern hatten. Da hat doch tatsächlich ein Bruder mit mir geschimpft und hat gefragt, wo ich denn wohl stecke. Dass hat mich und meinen Mann so sehr geärgert, dass wir 20 Jahre nicht mehr in die Kirche gegangen sind.

Warum sind Sie zurückgekommen?

Als wir aus Billstedt weggezogen sind, kam uns im neuen Zuhause ein anderer Bruder besuchen. Der war so liebenswert, dass ich dachte: Na gut, wir versuchen das noch mal. In die Gemeinde Mundsburg sind wir dann so richtig hineingewachsen. Als sie geschlossen wurde, landeten wir in Barmbek. Für mich ist diese Kirche ein zweites Zuhause geworden. Mein Mann ist jetzt schon seit 20 Jahren tot. Aber ich habe so eine schöne Gemeinschaft mit den anderen Senioren. Wir machen Ausflüge, das ist immer so lustig und schön. Ich fühle mich hier einfach sauwohl.

Wären Sie gerne noch einmal jung?

Bloß nicht! So langsam komme ich zum Beispiel mit der ganzen Technik nicht mehr mit. Meine Enkel klappen ihren Laptop auf und rufen Freunde in Amerika an. Das ist, als ob man da reinlangen kann zum Guten-Tag-Sagen. Wenn mein Mann hören würde, was heute alles möglich ist, würde er sagen: Du hast nicht alle Tassen im Schrank! Ich habe schon so viel erlebt – ich habe ihm da oben wirklich eine Menge zu erzählen.